Was wird jetzt aus uns?

Die Geburt eines behinderten Kindes stürzt die ganze Familie in eine existenzielle Krise. Manche brauchen Jahre, um wieder Boden unter den Füßen zu gewinnen.

Ein Schock. Verleugnung, Schuld, Aggression, Ohnmacht, Festklammern an dem berühmten Strohhalm, Verzweiflung, Trauer:

Die Gefühle, die die Diagnose einer geistigen Behinderung oder einer damit verbundenen Mehrfachbehinderung ihres Neugeborenen bei den Eltern auslöst, beanspruchen ihre seelischen Kräfte aufs Äußerste. Es ist eine tief verunsichernde, meist unvorbereitete existenzielle Erfahrung, die tief in ihren Lebenslauf und in ihre Beziehungsgeflechte eingreift. Mit betroffen sind die älteren Geschwister, Großeltern und andere Verwandte – alle, denen Entwicklung, Bindung und Wohlbefinden des neuen Erdenbürgers am Herzen liegen.

Oft steht die Diagnose schon kurz nach der Geburt fest, zum Beispiel bei Kindern mit einem Down-Syndrom oder perinatalen Schädigungen wegen eines Sauerstoffmangels unter der Geburt. Bei anderen erhärtet sich eine Diagnose erst nach Monaten oder Jahren, etwa bei Entwicklungs- oder Autismusstörungen. Der Schock kommt dann gewissermaßen „auf Raten“, bis ein Verdacht zur Gewissheit geworden ist; die Verarbeitungsprozesse und die seelischen Belastungen fordern die Eltern und Angehörigen aber kaum weniger quälend heraus.

Funktionieren bis an die Grenze

Schon rein äußerlich kommen für Eltern von behinderten Kindern zu den ohnehin „üblichen“ Alltags- und Beziehungsproblemen, die jedes Paar im Übergang zur Elternschaft durchläuft, weitere dazu: Besuche bei (spezialisierten) Ärzten und Therapeuten, die oft weite Wege erfordern, der „Papierkrieg“ mit Krankenkassen und anderen Behörden, die Suche und Verarbeitung von schwierigen und manchmal sogar widersprüchlichen Informationen über Krankheitsbilder und Behandlungschancen. In diesem deutlich erschwerten Alltag bleiben den Eltern kaum noch Zeiten für sich selbst und für ihre Paarbeziehung; sie müssen noch mehr „funktionieren“, Müdigkeit, Erschöpfung und Enttäuschungen individuell und miteinander handhaben. Und bei all diesem Kraftaufwand fehlt ihnen das Glück, ein gesundes, unbelastetes, gedeihendes Kind heranwachsen zu sehen, das ihr Selbstwertgefühl stärkt und alle Belastungen aufwiegt.

Zwischen Wut und Hoffnung

Dazu kommt: Die Gefühle, Erlebnis- und Bewältigungsmuster der Eltern prägen sich je nach ihrer individuellen Lebensgeschichte oft sehr unterschiedlich aus und können in einem dynamischen Prozess aus- und sogar gegeneinander laufen. Vielleicht hegt – zum Beispiel – die Mutter noch die Hoffnung, dass sich das Schicksal noch zum Guten verändern lässt; ihr Mann dagegen versucht (unbewusst) genau gleichzeitig, die Herausforderung mit Wut und Aggression seelisch zu verarbeiten. An solchen Kippstellen fällt es Paaren oft schwer, sowohl untereinander als auch im Umgang mit dem Kind eine Balance zu finden. Möglicherweise droht stattdessen eine Entfremdung und Entfernung in der ohnehin schon fragilen Triade zwischen Vater, Mutter und Kind. Das wiederum hat weitere Auswirkungen auf das Umfeld der Familie – einschließlich ihrer professionellen Unterstützer. Am stärksten betroffen ist gewissermaßen in einem Kreisprozess das behinderte Kind. In der Regel benötigt es mehr Ansprache, Pflege, Förderung und Zuwendung als ein gesundes; Müttern und Vätern, die sehr mit ihrer eigenen Erschöpfung und Trauer beschäftigt sind, fehlen dafür aber oft Zeit und Kapazität. In derart ungünstigen frühen Entwicklungsbedingungen können Wurzeln für nachteilige Affektregulations-, Bindungs- und Kommunikationsmuster wachsen. Paare, die in dieser Zeit Hilfe bei einer Paar- und/oder Familienberatung suchen (meist auf Empfehlung von anderen), fragen sich oft:

  • Was wird jetzt aus unserem Leben, aus der Berufstätigkeit und unserer ökonomischen Situation?
  • Werden wir all dem gewachsen sein?
  • Wo kann ich mit meiner Verzweiflung, mit meinen Gefühlen von Enttäuschung, Selbstwertkränkung, Verlust, Wut und Trauer hin?
  • Wie wird sich unser Paar- und Liebesleben verändern?
  • Woher nehme ich die Kraft?
  • Hätten wir doch nur eine Pränataldiagnostik gemacht! Hätten wir früher Kinder bekommen! Hätten wir besser ganz verzichtet?
  • Wer hilft und unterstützt uns?
  • Wo erhalten wir Orientierungshilfen für Therapien, Frühförderung? Was davon passt zu uns und zu unserem Kind?
  • Dürfen wir abwarten und uns Ruhe und Zeit nehmen, um zuerst die Beziehung zu unserem Kind zu festigen? Oder müssen wir sofort mit allen Förderplänen beginnen?
  • Wer wird sich um dieses Kind kümmern, wenn wir es selber nicht mehr schaffen können?
  • Werden wir isoliert leben?
  • Wie werden sich unsere Freunde und Nachbarn verhalten?
  • Warum passiert das uns?

Die Bearbeitung all dieser möglichen Fragen und inneren Konflikte braucht Raum und die richtigen Ansprechpartner. Schon die allererste Aufklärung über die Behinderung – am besten früh, weil die Erfahrung zeigt, dass die Eltern „es“ ohnehin ahnen – kann die Bindung zu ihrem Kind erleichtern: wenn die Fachleute ihre Informationen einfühlsam und klar formulieren, dabei die Eltern in ihren Fähigkeiten, Kompetenzen und Grenzen und in ihrer Wahrnehmung und Autonomie respektvoll bestärken und unbedingt nicht nur die Behinderung, sondern auch die „gesunden“ Seiten des Kindes und seine Entwicklungsmöglichkeiten benennen. Umso eher können die Eltern ihr Kind als „normales“ und nicht als „anderes“ Wesen annehmen. Später finden sie in Kliniken, ambulanten Diagnose- und Behandlungszentren, fachspezifischen Beratungsstellen und in integrativen Einrichtungen nicht nur fachliche Hilfen, sondern auch unterstützende familien- und phasengerechte Begleitung, Rat, Ermutigung und Perspektiven. Nicht zuletzt haben viele Eltern auch sehr von Selbsthilfegruppen mit oder ohne Moderation profitiert; aus diesen Kontakten können sich entlastende Hilfen, manchmal auch Freundschaften entwickeln, die der Isolation entgegenwirken. Und beider Bearbeitung von ganz persönlichen Zweifeln und Ängsten können Gespräche mit Lebensberatern und Seelsorgern helfen.

Die Verzweiflung kommt wieder

Wie bald Eltern nach dem anfänglichen Schock ihr Kind und ihr Schicksal annehmen können und eine Form finden, die neue Lebenssituation zu gestalten und im besten Fall gemeinsam zu tragen, hängt von einer Vielzahl von Einflüssen ab: ihren persönlichen Ressourcen und Vorerfahrungen, ökonomischen Möglichkeiten, der Stärke ihres Familiensystems, den gesellschaftlichen Netzwerken vor Ort, der Qualität ihrer professionellen Helfer. Manche gewinnen schon nach sechs Wochen wieder „Boden unter den Füßen“, andere nach Jahren noch nicht. Und auch bei den Glücklicheren können die bedrückenden Gefühle des Anfangs phasenweise immer wieder durchbrechen.

Wenn Eltern und ihr Umfeld erste Sicherheit und Ruhe (zurück)gewonnen haben, sprechen die Paare oft neue Themen an:

  • Scham und Schuldgefühle
  • Enttäuschung über die „Fremdheit“ des Säuglings
  • Neugestaltung der Beziehungs- und Kommunikationsmuster mit der Familie, mit Freunden, Bekannten und dem weiteren Umfeld
  • Suche nach Unterstützung, Halt und Bestätigung
  • Umgang mit Nähe und Distanz auf der Paarebene und Auswirkungen auf die Sexualität
  • Auseinandersetzung mit dem Thema „Wunschkind vs. Realität“, auch im Hinblick auf mögliche weitere Kinder

Verständnis statt Ratschläge

Paare brauchen in dieser Zeit Verständnis und Anerkennung für ihre Situation und ihre erschwerten Rahmenbedingungen. Dagegen wirken Ratschläge und Bevormundung – auch von professioneller Seite – kontraproduktiv. Manche Eltern fühlen sich von Kliniken und Institutionen als „unkooperativ“ abgestempelt und missverstanden. Sie suchen Hilfe, gerade weil sie unter Ängsten und Blockierungen leiden und es eben nicht leicht fällt, bestimmte Schritte zu gehen. Diese Anspannung aufzulösen und stattdessen kind- und familienbezogene Lösungen zu entwickeln, kostet Zeit; dazu gehört auch, den Eltern zu sagen, dass niemand Schuld hat und dass gewisse Ideale und Vorstellungen von einer „guten Mutter“ und einem „guten Vater“ nicht immer umsetzbar sind.

Einer besonderen Herausforderung sehen sich auch Geschwister von behinderten Kindern gegenüber. Sie reagieren womöglich eifersüchtig auf die außergewöhnliche Zuwendung und Beachtung, die ihre Eltern dem behinderten Geschwister widmen, und geben dadurch plötzlich ihrerseits Grund zur Besorgnis. Oder die gesunden Geschwister übernehmen, besonders bei sehr schwer behinderten Kindern, ersatzweise Elternfunktionen und stellen sich selbst mit ihren Wünschen und Bedürfnissen hinten an.

Häufige Themen von Geschwistern behinderter Kinder sind:

  • Wen haben meine Eltern lieber? Da sie sich ja nur um das behinderte Kind kümmern, werde ich es wohl kaum sein, oder?
  • Darf ich eifersüchtig sein, weil das behinderte Kind so viel mehr Aufmerksamkeit erlangt?
  • Darf ich eigene Ängste und Sorgen zeigen, obwohl ich größer und gesund bin?
  • Was muss ich anstellen, damit auch ich Aufmerksamkeit bekomme? Wieso muss ich so viel helfen und zu Hause bleiben?
  • Warum haben meine Eltern keine Geduld, nie Zeit? Warum passiert das in meiner Familie und nicht meinen Freunden?
  • Was werden meine Freunde sagen, wenn sie mein Geschwister kennen lernen? Wollen sie dann noch mit mir befreundet sein?

Solche Fragen benötigen einen kindgemäßen Raum, den ihre Eltern, ohnehin bis an die Grenzen gefordert, allein nicht bereitstellen können.

Kinderseminare und -selbsthilfegruppen kommt deshalb oft eine besondere Bedeutung zu.

Abschied vom Traum-Enkelkind

Eine wichtige Rolle als „flankierende Unterstützungssysteme“ übernehmen in Familien mit behinderten Kindern oft die Großeltern. Oder sie sehen sich zumindest mit einer impliziten Erwartungshaltung der eigenen Kinder konfrontiert. Darin liegt oft ein beachtliches Konfliktpotenzial für die größere Familie, wenn unterschiedliche Erwartungen, Koalitionen, Allianzen des Systems aufeinander treffen. Es kann sein, dass auch finanzielle und materielle Ressourcen der Großeltern, so weit vorhanden, überwiegend in die Familie mit dem behinderten Kind fließen.

Auch die Großeltern müssen zunächst, ähnlich wie die Eltern, ihre eigenen Affekte annehmen und verarbeiten:

  • Wie wird sich das Leben meines Kindes durch die Behinderung des Enkels verändern?
  • Welche Erwartungen und Anforderungen kommen dadurch möglicherweise auf mich zu?
  • Was kann und möchte ich selber leisten?
  • Wer wird sich um das Kind kümmern, wenn die Eltern durch Krankheit ausfallen?
  • Welche Haltung und Einstellung habe ich zur Behinderung?
  • Wie werden Freunde, Verwandte und Bekannte auf diese neue Situation reagieren?
  • Werden wir weiter integriert sein?
  • Was passiert mit mir, wenn ich alt, schlimmstenfalls pflegebedürftig bin? Können meine Kinder sich dann zusätzlich auch noch um mich kümmern?

Auch für Großeltern bedeutet die Geburt des real behinderten Enkels: Sie müssen Abschied nehmen von dem fantasierten Enkelkind ihrer Träumen und Ideale. Auch von ihnen erfordert die veränderte Situation also eine beachtliche psychische Anpassungsleistung.

 Birgit Wolter